|
2007-02-28 Industriemagazin Nr. 03/07 vom 01.03.2007, Ressort: Forschen & Wissen, Seite: 84 Absolut abstraktionsbereitMathematiker. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet forschen sie im Elfenbeinturm aus Formeln und Gleichungen. Doch ihre Resultate haben oft handfeste Anwendungen in Wirtschaft und Industrie. Glaubt man der Überlieferung, saß Archimedes gerade sinnierend in der Badewanne, als ihm ganz plötzlich die Methode einfiel, den Goldgehalt der Krone seines Herrschers zu berechnen. Voller Beigeisterung über den Geistesblitz rannte er nackt durch die Straßen von Syrakus und rief dabei lauthals "Heureka". Derlei Anekdoten begründeten den Ruf der Mathematiker, ein weltfremdes Völkchen zu sein, das in einem formalistischen Paralleluniversum lebt. Eine verständliche Einschätzung des mathematischen Laien, der mit wunderlichen Spleens allemal mehr anfangen kann als mit Konvergenzkriterien und Binominalkoeffizienten. Doch auch wer gar keinen Zugang zu dieser Wissenschaft hat, muss zugeben, dass sie den Weg vom Faustkeil ins Computerzeitalter geebnet hat. Nur eine falsch berechnete Kommastelle kann darüber entscheiden, ob die Brücke hält, was der Statiker verspricht, oder das Spaceshuttle den Wiedereintritt in die Atmosphäre schafft. Immer neue Methoden und Theorien sorgen nicht nur für stetigen Fortschritt, sondern sichern Unternehmen aus den verschiedensten Branchen den entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Autistische Tugend. "Die Mathematik ist eine noble Wissenschaft, die auch etwas Geheimnisvolles an sich hat", sagt Rudolf Taschner von der Technischen Universität Wien. Als Betreiber des Mathspace im Wiener Museumsquartier versteht er es, in regelmäßigen Vorträgen den Schleier des Mysteriösen zu lüften und seine Disziplin einem breiten Publikum schmackhaft zu machen. Er kennt die großen und kleinen Schwächen berühmter Mathematiker und die häufig zu beobachtende Tendenz zu einer leichten Form des Autismus, die sich einstellt, wenn man sich tagtäglich in abstrakte Probleme vertieft. Doch scharfes Denken und die Fähigkeit, Probleme auf das Wesentliche zu reduzieren, sind für Taschner nur sekundäre Tugenden. Das primäre Merkmal des wahren Mathematikers sei vielmehr eine andere Sicht auf die Welt. "Sie vom Unendlichen her zu betrachten", wie er es philosophisch nennt. Sein Kollege Heinz Engl von der Linzer Johannes-Kepler-Universität sieht das genau umgekehrt. Als Leiter des Instituts für Industriemathematik stehen ihm praxisbezogene Probleme naturgemäß näher. Sein Spezialgebiet ist die Simulation und Optimierung technischer Prozesse mit numerischen Methoden. "Mit den richtigen Algorithmen können dabei Vorgänge sichtbar gemacht werden, die sich ansonsten direkter Beobachtung entziehen", sagt er. Etwa die chemischen und thermischen Abläufe bei der Stahlerzeugung. Für Siemens VAI entwickelten Engl und sein Team ein Tool, das den Corex-Prozess in einem dreidimensionalen Modell grafisch darstellt. Dieses Verfahren gilt als sehr umweltfreundlich, weil es unverkokte Kohle verwendet. Um die Vorgänge im Reduktionsschacht präzise zu modellieren, müssen Hunderttausende von gekoppelten Gleichungen simultan gelöst werden. Das Vorzeigeprojekt ist so gut wie abgeschlossen. Mit Erfolg: Die Software kommt bei der Optimierung der neuen Corex-Anlage zur Anwendung, die Siemens VAI derzeit in Schanghai errichtet und die Ende 2007 in Betrieb gehen soll. Ihre Jahreskapazität wird 1,5 Millionen Tonnen Stahl betragen. Achillesferse Verschlüsselung. Heinz Engl ist ein Gründervater. Er war maßgeblich daran beteiligt, dass Linz heute als Mekka der industrienahen Mathematik gilt. Neben dem Universitätsinstitut beherbergt die Stadt noch das Industrial Mathematics Competence Center (IMCC) und das Johann Radon Institute for Computational and Applied Mathematics (RICAM), denen Engl als Direktor vorsteht, sowie seine eigene Firma Mathconsult. Diese Institutionen arbeiten eng zusammen - das Klischee des eigenbrötlerischen Formelfreaks, der seinen Arbeitsraum nur für nötigste Verrichtungen verlässt, hat in der oberösterreichischen Landeshauptstadt keine Gültigkeit. Und doch: Auf der Suche nach Beweisen für bislang Unbewiesenes, nach der zündenden Idee, bleibt jeder auf sich selbst gestellt. Mathematik zu betreiben bedeutet auch, sich der Konkurrenz zu stellen - und zuweilen geht es auch um "serious money". Denn 1999 hat der amerikanische Geschäftsmann Landon Clay eine Stiftung ins Leben gerufen, die für die Lösung einer von sieben besonders hartnäckigen mathematischen Nüssen jeweils eine Million Dollar bezahlt. Die meisten sind eher von theoretischem Interesse, doch das so genannte P/NP-Problem fällt aus dem Rahmen. Dabei geht es um die Frage, wie lange ein Computer braucht, eine Rechenaufgabe zu lösen. Unproblematisch sind die P-Aufgaben. Dazu zählt etwa das Sortieren einer Datenbank. Die Anzahl der benötigten Rechenschritte steigt hierbei polynominal mit der Größe der Datenmenge, also moderat. Viel schwieriger ist es dagegen zum Beispiel, eine mehrere hundert Stellen große Primzahl in ihre Faktoren zu zerlegen. Solche Aufgaben haben nicht polynominal, sondern exponentiell viele Lösungskandidaten und können daher auch von den schnellsten Superrechnern nicht in vertretbarer Zeit gelöst werden. Man nennt sie NP-Probleme. Die Frage ist nun, ob es für NP-Probleme einen Algorithmus gibt, der sie in polynominaler Zeit löst. Falls ja, dann wäre P gleich NP. "Kein Experte glaubt, dass P gleich NP ist", dementiert Reinhard Pichler vom Institut für Informationssysteme der TU Wien. "Aber ohne hieb-und stichfesten Beweis kann man eben nicht hundert Prozent sicher sein." Die Relevanz dieser Fragestellung wird offensichtlich, wenn man bedenkt, dass moderne Verschlüsselungsverfahren darauf beruhen, dass riesige Primzahlen nicht effizient faktorisierbar sind. "Wenn P gleich NP ist, dann ist der Traum der Datensicherheit ausgeträumt", meint Pichler. Eine Lösung der einen oder anderen Art ist auf absehbare Zeit nicht in Sicht, das Preisgeld bleibt, wo es ist. Wer trotzdem auf Nummer sicher gehen will, verzichtet vorerst auf Online-Banking und Bankomat-Abhebungen. No risk, no fun. Gelernte Mathematiker sind hoch gefragte Arbeitskräfte. Dass man es auch als Gleichungsgläubiger ganz nach oben schaffen kann, hat der ehemalige Chef der deutschen Telekom, Ron Sommer, demonstriert. Mehr als 5000 junge rechnende Frauen und Männer tummeln sich derzeit an Österreichs Unis. Technische Mathematik verweist das Lehramtsstudium dabei auf Platz zwei. Stark im Kommen ist die Versicherungs-und Finanzmathematik. Mit einem solchen Abschluss in der Tasche hat man fast eine Jobgarantie. So sind im Uniqa-Konzern österreichweit mehr als 50 Mathematiker beschäftigt. "Sehr gute Chancen haben Absolventen, die bereits Erfahrung mit den neuen Themen Embedded Value, Profit Testing oder Solvency II haben", sagt Reinhard Keller, Geschäftsführer der Uniqa-Human-Ressources-Service. Und: "Die Persönlichkeit spielt eine immer größere Rolle." Gesucht werden vor allem Leute, die gut kommunizieren können, die Bereitschaft haben, Ostsprachen zu lernen, und auch vor längeren Auslandsaufenthalten nicht zurückschrecken. Mit dem Wittgenstein-Preisträger Walter Schachermayer hat die Alpenrepublik auf dem Gebiet der Versicherungs-und Finanzmathematik ein internationales Aushängeschild vorzuweisen. Auch er bestätigt: "Wer Risikomanagement auf mathematisch fundierte Art und Weise beherrscht, ist in der Wirtschaft hoch gefragt." In Fachkreisen berühmt wurde Schachermayer durch die präzise Formulierung eines Satzes, für den Robert Merton und Myron Scholes 1997 den Wirtschaftsnobelpreis erhielten. Er besagt, dass es nicht möglich ist, auf Finanzmärkten Arbitragegewinne mit Optionen zu machen, weil die Marktteilnehmer dadurch, dass sie die Arbitrage ausnutzen, diese sofort zum Verschwinden bringen. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Chancen an der Börse gleich verteilt sind. Im Gegenteil, das mathematisch fundierte Resultat von Schachermayers Forschungen besagt gerade: Ohne Risikobereitschaft gibt es keinen Gewinn (No free lunch with vanishing risk). Mittels Wahrscheinlichkeitsrechnung kann er jedoch berechnen, wie Händler den Preis für Optionen gestalten sollten, damit das Risiko gegen null geht. Faktisch ist es allerdings nicht damit getan, Zahlen in eine Gleichung einzusetzen. Im Gegenteil: "Um am Finanzmarkt erfolgreich zu sein, darf man das Modell nicht als Black Box betrachten", meint Schachermayer. "Man muss die dahinterliegende Mathematik genau verstanden haben." Denn nur so weiß man, wann das Modell gerade nicht anwendbar ist. Inspiriertes Zitat. Obwohl er sich im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen aus der reinen Mathematik diesbezüglich nicht in Erklärungsnotstand befindet, hört Schachermayer die Gretchenfrage nach der Anwendung mathematischer Forschung gar nicht gerne. "Ich betreibe Grundlagenmathematik, die von konkreten Anwendungen inspiriert ist", meint er lapidar. "Die gängige Polarisierung in Praxis und Theorie halte ich für einen völlig falschen Ansatz." Er hält es lieber mit dem Physiker Ludwig Bolzmann, der einmal meinte, es gäbe nichts Praktischeres als eine gute Theorie. |
||||||||||||||||||||||||||||
(top of page) (print version) |
© by Financial and Actuarial Mathematics, TU Wien, 2002-2024 https://fam.tuwien.ac.at/public/press/20070228.php Last modification: 2016-03-21 Imprint / Impressum — Privacy policy / Datenschutzerklärung |